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Die Gaumenkitzler

Ameisen auf Crème Fraîche oder Nori-Tartelette mit Thunfischbauch und Kimizu – das Amuse-Bouche zwischen kulinarischer Leistungsschau und delikater Visitenkarte

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Kann ein Abend besser beginnen? Aus dem 27. Stock blickt man auf das nächtliche Leipzig, auf Rathausturm und Nikolaikirche, dazu lässt Peter-Maria Schnurr im Falco eine wahre Kaskade von Amuse-Bouches auftragen – bis zu zehn verschiedene Tellerchen und Schüsselchen können die Gäste zählen. Da ist San Remo Garnele, von so cremiger Frische, dass sie am Gaumen zu schmilzen scheint, mit Passionsfrucht-Limequat-Mayo; Kaviar bester Qualität auf geschmolzenem Schweinefuß mit kaltem Apfelbrei; „Ravioli à la thailandaise“ alias Wan Tan, gefüllt mit scharf angemachtem Auberginentatar; Bio-Karotte „à la Marocaine“ – und vieles mehr. Ein denkwürdiges Leipziger Allerlei, das einem alles über Peter-Maria Schnurr und seine Küche verrät, die Großzügigkeit, beste Produkte, mutige Aromenkombinationen und zeitgemäße Leichtigkeit kennzeichnen. Und vor allem: eine ganz eigene kulinarische Handschrift.

Amuse-Bouches, zu deutsch: „Küchengrüße“, sind die Visitenkarte der Köche, sie stimmen auf den Stil des Hauses ein und machen Appetit auf mehr. Bestellen kann man sie nicht, sie kommen unaufgefordert. Das in der deutschen gehobenen Gastronomie meist gebrauchte „Amuse-Bouche“ ist eine vornehmere Variante des ursprünglich in Frankreich üblichen, etwas derberen „Amuse-Gueule“ (dt. in etwa: „freut das Maul“). Weil die umgangssprachliche „gueule“ zu vulgär klang, musste etwas Eleganteres her, als die kreative Häppchenparade mit der Nouvelle Cuisine in die feine Küche Einzug hielt.

Manche Köche pflegen lieber andere Bezeichnungen: Juan Amador nennt sie lässig „Snacks“ (frei nach Ferran Adrià), Klaus Erfort im grenznahen Saarbrücken „Les Délices“, Alfons Schuhbeck auf gut bayerisch „Magentratzerl“ und Fernsehkoch Frank Rosin in seinem Restaurant in Dorsten mit etwas gequälter Originalität „Schmackofatz“ (nach Wolfram Siebeck). Wie auch immer sie heißen, ein unfreiwilliger Nebeneffekt ist, dass sich für den Kenner schon hier die Spreu vom Weizen trennt: Die einen nutzen die Freiheit vorneweg, um Kreativität und Witz zu demonstrieren, andererseits entlarvt das Entrée auch erbarmungslos ideenlose Köche, wenn die Petitessen von erlesener Beliebigkeit sind.

Die besten Amuse-Bouches der Spitzenköche sind mittlerweile zu modernen Klassikern geworden. Allen voran natürlich das Mini-Cornetto, gefüllt mit Rindertatar, mal kombiniert mit Meerrettichmousse, mal mit Räucherfischcreme, und gekrönt von einigen Körnchen Kaviar, wie man es in Perfektion bei Torsten Michel, Klaus Erfort oder Hans Haas bekommt. Joachim Wissler serviert in seinem aktuellen Menü zum 20. Geburtstag des Vendôme selbstverständlich vorneweg sein beliebtes „Toffee“, ein Gänseleberkaramell auf schmelzender Schokolade mit Piemonteser Haselnuss und einem Augenzwinkern („Es steckt viel Spaß in…“.). Und bei Sven Elverfeld wäre man regelrecht enttäuscht, käme zum Start nicht die berühmte knackig-bittersüße Kalamata-Olive, ummantelt von hauchdünnem Karamell.

Sehr beliebt im zeitgemäßen Amuse-Bouches-Reigen ist auch der Macaron, weil man ihn als Trägerform so schön variieren kann: Knallgrün schmilzt er bei Kevin Fehling mit der Frische von Basilikum, der Fruchtsüße von Melone und der Cremigkeit von Burrata am Gaumen, unvergessen auch das pinkfarbene Rote-Bete-Macaron mit feinbalancierter Wasabicreme-Schärfe bei Peter Knogl im Baseler Cheval Blanc.

Das Prinzip der geschenkten Grüße (die selbstverständlich im Menüpreis einkalkuliert sind) ist nicht neu – Dieter Müller war Ende der 1990er Jahre sogar so verliebt in die Idee, dass er gleich ein komplettes Amuse-Bouches-Menü in 20 Portiönchen servierte. Im neuen Jahrtausend gerieten die vorher beiläufig gereichten Kleinigkeiten dann im großen Stil zur Bühne der Selbstdarstellung. Was als nette Geste für den Gast begann, entwickelte sich immer mehr zu einem Schaulaufen der Küchenkünste, es entbrannte ein regelrechter Wettkampf um die originellsten Grüße.

Stilprägend war hier wie so oft das Kopenhagener Noma, wo man staunenden Gästen in den besten Zeiten sage und schreibe fünfzehn „Appetizer“ vor dem immerhin zwölf Gänge umfassenden Menü servierte. Gourmetnomaden aus aller Welt knabberten andächtig an ausgewachsenen Lauchstangen, um deren „Herz“ zu genießen, probierten gefrostete Kabeljauleber mit Milchhaut-Chips und wenn sie Pech hatten, mussten sie einer lebenden Mini-Garnele den Kopf abbeißen oder zuschauen, wie auf ihrem Teller Ameisen über Kohlblätter mit einem Klacks Crème fraîche krabbeln – was tut man nicht alles, um im Gespräch zu bleiben. Für den Gast gerieten solche Inszenierungen zur atemlosen Jagd von Höhepunkt zu Höhepunkt – oft war man fast satt, wenn endlich der offizielle erste Gang des Menüs den Tisch erreichte.

Inzwischen hat sich die Lage an der Amuse-Bouche-Front etwas beruhigt. Kluge Köche verstehen die Häppchen vorneweg nicht nur in ihrer ursprünglichen Funktion als Gaumenkitzler einzusetzen, sondern nutzen sie programmatisch, stecken damit den konzeptionellen Rahmen ihrer Küche ab. Zum Beispiel Christian Bau, der unter dem Motto „Raw Bar“ mit seinen delikaten Miniaturen auf die kompromisslose Produktqualität, das exzellente Handwerk und die Stilistik seines Menüs Paris-Tokio einstimmt: Algencracker, gefüllt mit Taschenkrebsfleisch und Miso-Mayonnaise, Nori-Tartelettes mit Thunfischbauch und Kimizu oder Ceviche vom Wolfsbarsch mit Meeresfrüchten, Ponzusud und winzigen Kügelchen von geeister Shiso.

Einen ganz eigenen Weg ging Tim Raue, der für sein Restaurant in der Berliner Rudi-Dutschke-Straße schon frühzeitig beschloss, nicht schon vor dem Menü eine vollmundig präsentierte Leistungsschau zu bieten. Er lässt seinen Gästen einfach ganz lapidar einen Schwung hübscher Schälchen auf den Tisch stellen, vollgepackt mit asiatischer Aromatik, vom Schweinebauch „Sichuan“ mit Sesam über Rettich mit Makrele, Limette und Sauerampfer oder Endivie mit Entenrillettes à l’orange bis zu Kimchi-Crevetten. Ganz unaufgeregt, einfach nur genussvolle Häppchen zum Aperitif – so wie es der Ursprungsidee des Amuse-Bouche entspricht.

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