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Eine deutsche Restaurantlegende

Vor 50 Jahren eröffneten die Schweizer Stuben in Wertheim-Bettingen. Heute fast vergessen, wurde das Haus zu einer treibenden Kraft für die Entwicklung großer Küche in Deutschland – und zur kulinarischen Talentschmiede

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Schweizer Stuben – die Siebziger lassen grüßen © Privat

Als der Unternehmer Adalbert Schmitt im Mai 1971 in Wertheim-Bettingen bei Würzburg das Restaurant Schweizer Stuben eröffnet, hat er Großes vor – doch dass sein Haus zu einer der Geburtsstätten des sogenannten deutschen Küchenwunders werden würde, hat wohl nicht mal er sich träumen lassen. 50 Jahre ist das jetzt her, doch schon heute kennt kaum noch ein Koch-Azubi den Namen des 2003 geschlossenen Spitzenrestaurants. Und das, obwohl man es – neben dem (im Dezember 1971 eröffneten) Münchner Tantris und Eckart Witzigmanns Aubergine – getrost als eine der führenden Talentschmieden des Landes bezeichnen kann. Hier holten sich viele spätere Sterneköche den Feinschliff: Hans Stefan Steinheuer, Douce Steiner, Bobby Bräuer, Harald Rüssel, Yves Ollech, Johann Lafer, Manfred Schwarz, Ingo Holland, Stefan Marquard, Bernhard Diers, Alexander Herrmann, Ali Güngörmüs… 

Adalbert Schmitt, Industrieller und Genussmensch © Privat

Zu verdanken ist das dem Mut und der innovativen Kraft von Adalbert Schmitt, der als Industrieller mit Kunststoff ein Vermögen gemacht hatte, im Herzen aber Bonvivant war. In den frühen 1970er Jahren, als Jägerschnitzel mit Bratkartoffeln für die meisten Deutschen das höchste der kulinarischen Gefühle war, holte er die große Küche in die tauberfränkische Diaspora. Die Schweiz mit ihrer Tradition der Grandhotels war damals schon ein ganzes Stück weiter als ihr nördlicher Nachbar, aus St. Moritz lockte der begeisterungsfähige Patron 1972 Jörg Müller nach Wertheim, ein Jahr später folgte auch dessen jüngeren Bruder Dieter. 

Der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte: Die fabelhaften Müller-Brüder kochen Wertheim auf die kulinarische Landkarte und machen es über die Landesgrenzen bekannt. 1974 erkochen sie ihren ersten, 1977 den zweiten Michelin-Stern. „Die Wunderknaben von Wertheim“ nennt sie Klaus Besser, Begründer der deutschen Restaurantkritik, und setzt die Schweizer Stuben 1979 in seiner ersten Hitliste deutscher Restaurants auf Platz Eins. Als 1982 der erste deutsche Gault&Millau erscheint, vergleicht Christian Millau die badischen Müllers sogar mit den Brüdern Troisgros, die in Roanne zu den Weichenstellern der modernen franzöischen Küche gehörten.

Von links: Andreas Schmitt (heute COO Althoff Hotels), Dieter Müller, Jörg Müller. In der Mitte Adalbert Schmitt; fünfter von rechts: Hans Stefan Steinheuer © Privat

1988 wird Dieter Müller (sein Bruder machte sich schon 1984 auf Sylt selbstständig) vom Gault&Millau zum ersten deutschen „Koch des Jahres“ gekürt. Die Kritiker loben vor allem „seine Fischgerichte, nach denen man süchtig werden kann“: gefülltes Seezungenfilet im Strudelteig mit Currysauce, soufflierten Loup de Mer im Chablis-Safransud, gebratene Languste mit roter Butter… Im Gault&Millau erreichen die Schweizer Stuben die Höchstwertung von 19,5 Punkten, der dritte Stern aber bleibt ihnen versagt.

Nach dem Abgang von Dieter Müller, der später in Schloss Lerbach drei Sterne erkocht, gibt Adalbert Schmitt seiner Vorliebe für mediterrane Lebensart nach. Er lässt den neuen Küchenchef Fritz Schilling höchst erfolgreich die Aromen der Provence nach Wertheim holen. Im Zweitrestaurant Taverna la Vigna wird schon seit einiger Zeit folklorefrei und authentisch italienisch gekocht. Letzter Küchenchef der Schweizer Stuben wird ab 1998 Tillmann Hahn, der nach einigen Jahren in Hongkong asiatische Aromen an die idyllische Mainschleife bringt. Doch das neue Programm zündet nicht so recht, dazu kommen finanzielle Probleme – 2003 schliessen die Schweizer Stuben, die 30 Jahre lang die deutsche Gastronomieszene maßgeblich prägten, für immer die Tore.

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