Interviews

Tim Raue: „Wir werden kämpfen!“

Der Spitzenkoch über Analogkäse, die Lehren aus der Corona-Krise und warum er heute lieber Brandenburger Kohlrabi als thailändische Wintermelone verwendet

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Tim Raue © Nils Hasenau

„Corona wird unser kulinarisches Leben in Schutt und Asche legen“ – das haben Sie gesagt, als Mitte März die Restaurants zwangsschließen mussten. Wie sehen Sie die Situation heute?

TR: Schutt und Asche, das klingt zwar drastisch, aber: Von den zehn Restaurants, die ich verantworte, sind erst zwei wieder geöffnet, unser Restaurant Tim Raue und die Villa Kellermann in Potsdam. Das heißt: 80% meiner Arbeit ist derzeit nicht existent. Die Colette-Brasserien werden wir Mitte Juni öffnen können, auf den Kreuzfahrtschiffen geht es frühestens im Herbst wieder los. Und bei all dem sind Caterings und Events, die auf unabsehbare Zeit brachliegen, nicht mitgerechnet. 

80 Prozent meiner Arbeit ist derzeit nicht existent.

Einige der meistgehypten Restaurants der Welt sind von der Krise schwer getroffen – das Noma mutierte zur Weinbar mit Burgern, Daniel Humm überlegt in New York, sein Eleven Madison Park ganz zu schließen, und in Paris öffnen die meisten Drei-Sterne-Restaurants frühestens im September wieder. Droht das Ende von Fine Dining?

Das Umgekehrte ist der Fall, zumindest in Berlin: Diejenigen Sternerestaurants, die wieder geöffnet sind, haben eine sehr gute bis exzellente Auslastung. Die Menschen gehen bei uns essen, weil sie etwas zu feiern haben oder einfach das Leben selbst feiern wollen. Schwierig ist es für die Restaurants im Casual-Bereich. Einfach mal schnell was essen gehen – darauf verzichten viele Gäste noch, das können sie zuhause selbst leisten. Aber Fine Dining lässt sich nicht ersetzen. Allerdings ist das Geschäft viel spontaner geworden. Früher waren wir Wochen und Monate im voraus ausgebucht, jetzt wird, außer an den Wochenenden, von Tag zu Tag reserviert.

Team Raue in der Berliner Rudi-Dutschke-Straße © Nils Hasenau

Trotzdem stellen viele jetzt das Modell Gourmetrestaurant auf den Prüfstand. Der Erfolgsdruck war immer sehr hoch, die Margen gering. War die Schraube nicht etwas überdreht, gab es in Deutschland nicht ein Überangebot?

Das sehe ich nicht so. Alleine, wie sich die kulinarische Bandbreite in Berlin in den letzten zehn Jahren entwickelt hat, das ist traumhaft. Ehrlicherweise muss man aber sagen: Das ist nur zu einem Teil den Berlinern zu verdanken, zu 60% haben Besucher aus aller Welt die Restaurants gefüllt. Die Frage ist jetzt: Wie viele kommen wie schnell zurück? Je länger Touristen und Geschäftsleute aus aller Welt wegbleiben, desto mehr Restaurants werden schließen müssen. Am besten stehen jetzt die Betriebe da, die schon vor der Krise von einheimischen Gästen lebten. Zum Beispiel unsere Villa Kellermann – dort sind wir schon wieder bei 90% Auslastung. 

Zu 60% haben Besucher aus aller Welt die Berliner Restaurants gefüllt.

Wolfgang Puck hat in den USA die Gäste dazu aufgerufen, jetzt gerade die kleineren, selbstständigen Restaurants zu unterstützen, die durch die Krise am stärksten gefährdet sind. Was können Gäste noch tun?

Viele Gastronomen müssen mit veränderten Konzepten an den Start gehen, um überleben zu können. Gäste helfen uns, wenn sie flexibel sind und solche Maßnahmen akzeptieren und unterstützen. Wir praktizieren in der Villa Kellermann schon sehr erfolgreich ein Double Seating, wie es im angelsächsischen Bereich längst üblich ist. Das heißt, ein Tisch wird pro Abend zweimal vergeben, die erste Runde kommt um 18 Uhr, die zweite um 20.15 Uhr. Das hilft jetzt uns und vielen anderen Gastronomen, trotz der wegen der Abstandsregeln verminderten Anzahl an Tischen, auf eine Wirtschaftlichkeit zu kommen und keine Mitarbeiter entlassen zu müssen. 

Double Seating hilft uns Gastronomen, in der Krise wirtschaftlich zu arbeiten.

Die Corona-Krise hat zwar die Gastronomie zeitweilig außer Gefecht gesetzt, aber insgesamt das Bewusstsein für gutes Essen und nachhaltigen Genuss verstärkt – wird sich diese Tendenz fortsetzen? 

Ich hoffe, dass wir als Gesellschaft die Chance nutzen, ein paar Dinge zu ändern, auch was unsere Ernährung angeht. Dass wir begreifen, wie wichtig gesunde Ernährung für unsere Widerstandsfähigkeit ist. Dass wir großen Foodgiganten einfach mal die Stirn bieten und uns als Konsumenten nicht mehr mit vollgezuckerten Lebensmitteln abhängig machen lassen. Dass wir keinen Analogkäse mehr kaufen, kein Schrott-Eis, das vor allem aus Öl und Fetten produziert wird, und keine Wurst, die aus Fleischresten, Wasser und jeder Menge Zusatzstoffe besteht. Es muss uns allen klar sein, dass das unseren Körpern schadet. Der Kreislauf des Lebens verlangt von uns, bewusster mit unserem Planeten, unserer Umwelt und unseren Mitmenschen umzugehen. Ich hoffe, dass wir daraus lernen und das annehmen.

Wir müssen als Konsumenten den großen Food-Giganten einfach mal die Stirn bieten.

Die Krise wird, glaubt man den Prognosen, bis zu 30 Prozent der deutschen Gastronomie in die Pleite treiben. Die Überlebenden haben die Chance, die deutsche Restaurantszene neu zu gestalten. Welche Konsequenzen ziehen Sie in Ihren Restaurants? 

Wir haben das Ohr immer nah am Gast. Deswegen haben wir eine wichtige Änderung unseres kulinarischen Konzepts schon vor Corona vollzogen. In den letzten zwei, drei Jahren haben wir den Bezug unserer Lebensmittel drastisch umgestellt. Früher kauften wir zu rund 60% in Asien ein. Heute kommen unsere Produkte zu 95% aus Berlin, Brandenburg, aber auch aus ganz Deutschland und Europa. Wir unterstützen heimische Produzenten, aber ich bin auch überzeugter Europäer.

Buy local machte nie so viel Sinn wie heute…

Das hat sich in den vergangenen Monaten bewahrheitet. Wir haben diese Entscheidung nicht an die große Glocke gehängt, das überlasse ich anderen, deren kulinarische Story darauf basiert. Mir ist einfach wichtig: Die Verfügbarkeit unserer Produkte ist gewährleistet, die Beschaffung so nachhaltig wie möglich und wir bleiben in einem Bereich, der für uns kontrollierbar ist. Aufgrund unseres Küchenstils beziehen wir noch etwa 5% der Ware aus Asien, vor allem aus Thailand. Aber auch hier haben wir durch Corona und den Zusammenbruch internationaler Lieferketten gelernt, dass wir etwa Morning Glory, den thailändischen Wasserspinat, durch junge Spinattriebe aus der Region ersetzen können. Und Wintermelone durch Kohlrabi. Wir haben gesehen, das funktioniert und werden wohl dabei bleiben.

Seit Corona ersetzen wir thailändischen Wasserspinat durch junge Spinattriebe aus der Region.

Wie lautet Ihr persönliches Fazit aus den vergangenen Wochen?

Wir haben einen wahren Alptraum durchlebt, aber das Leben besteht nun mal aus Herausforderungen. Gerade jetzt heißt es: Kinn wieder hochnehmen, Möglichkeiten und Perspektiven prüfen, neue Geschäftsfelder eröffnen und unliebsame Dinge abstoßen. Jeder Gastronom muss sich klarmachen, was für ihn persönlich wichtig ist und das seinen Mitarbeitern stringent vorleben. Wir werden kämpfen! Denn schließlich: Es gibt keinen besseren Ort als die Gastronomie, um den Alltag hinter sich zu lassen, sich etwas Gutes zu tun. In Berlin, wo die Straßen wochenlang nach 18 Uhr ausgestorben waren, kam das öffentliche Leben, das Licht und die Lautstärke des Abends in dem Moment zurück, als die Lokale wiedereröffneten. Die Gastronomie ist und bleibt ein zentraler Dreh- und Angelpunkt unseres sozialen Miteinanders.

2 Michelin-Sterne
19,5 Gault&Millau-Punkte

www.tim-raue.com

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